Jannik Schäfer

Im Zweifel sagen, was ist

Über den Einfluss von Blattlinie und Blattpolitik im gegenwärtigen Journalismus.

Eine Feldrecherche in eigener Sache von Gloria Reményi und Jannik Schäfer im Rahmen des Studiengangs Kulturjournalismus an der Universität der Künste Berlin. Winter 2018.

Das Jahr 2018 ging für den Journalismus ernüchternd zu Ende. Kurz vor Weihnachten wurde eine brisante Enthüllung um das Wochenmagazin 'Der Spiegel' öffentlich. Claas Relotius, ein Journalist, der seine eigenen Reportagen gefälscht hatte, war plötzlich in aller Munde. Die Diskussion um Vor- oder Unvoreingenommenheit in den Medien („Lügenpresse“) flammte erneut rasant auf. Das hierzulande mythische Faktencheck-System des Spiegel, ein Bollwerk der soliden Pressearbeit, hatte versagt. Ausgerechnet ein hochgelobter und vielprämierter Starreporter hatte in ungeheurem Ausmaß Unwahrheiten erzählt, unhinterfragt und unentdeckt von der Redaktion. Dementsprechend selbstkritisch hob der Spiegel sein althergebrachtes Leitmotto auf den Titel: „Sagen, was ist“. “Wie konnte es dazu kommen?“, fragte sich nun die Hamburger Redaktion und mit ihr die deutsche Medienlandschaft.

Der Relotius-Skandal wirft viele Fragen auf, zum individuellen Fehlverhalten des Autors, zur Mitverantwortung des Spiegel, zum Wert von Journalistenpreisen, zur Moral von Reportagen, zur Zukunft der Branche. Uns als NachwuchsjournalistInnen interessiert, dass ein junger Reporter und noch recht frischer Absolvent, von einem großen Verlagshaus engagiert, reihenweise gegen journalistische Leitlinien verstoßen konnte und damit durchkam. Mehr noch, dass er mit seinen spektakulären Storys perfekt die präferierte Ästhetik des Spiegel bediente und verkörperte und nicht nur die Leserschaft, sondern auch Chefredaktion und Kollegium blendete und beglückte.

Wie kann es passieren, dass journalistische und moralische Standards derart über Bord geworfen werden, wenn ein Inhalt nur gut genug in die Blattlinie passt? Handelt es sich um den kruden Einzelfall eines besonders raffinierten Narzissten oder steht mehr dahinter? Wie erleben JournalistInnen im Alltag die Blattpolitik und wie gehen sie damit um? Als angehende JournalistInnen wollten wir uns dieser Systemfrage über den Fall Relotius hinaus stellen. Deshalb haben wir uns mit drei Journalisten aus verschiedenen Bereichen der Branche
unterhalten.

Wahrung der Unabhängigkeit: Bartholomäus von Laffert

Für den Spiegel schreibt auch der 23-jährige Journalist Bartholomäus von Laffert, allerdings als freier Reporter. Sich nicht an ein Blatt zu binden, das sei für ihn der beste Weg, die eigene Unabhängigkeit zu wahren, erzählt er im Gespräch. „Als Freier kann ich meine Agenda selber setzen. Wenn der Auftraggeber eine Perspektive ablehnt, biete ich die Story einem anderen Medium an“, sagt von Laffert, der sich in seinen Reportagen hauptsächlich mit den Themen Flucht und Migration befasst. Er erzählt, wie er für den Spiegel eine Geschichte schreiben sollte, in der Flüchtlinge versuchen, mit dem Zug aus Italien nach Deutschland zu gelangen. Als er vor Ort an der Grenze war, wurde ihm klar, dass es auch eine andere erzählenswerte Story gab: Sie handelte von jenen Flüchtlingen, die nach Erhalt eines negativen Asylbescheids von Deutschland und Österreich nach Italien zurückkehrten. „Diese Story wollte der Spiegel nicht haben. Also erzählte ich sie für die ZEIT und Deutschlandfunk. Wenn ich nicht Freier wäre, wären diese und viele anderen Geschichten einfach verfallen“, so von Laffert, der sich aktiv um die Vermittlung eines möglichst differenzierten Weltbilds jenseits jeglicher Agenda bemüht. Ihm ist es außerdem wichtig, seine Texte nicht nur dort unterzubringen, wo seine Meinungen ohne auf großen Widerstand zu stoßen abgedruckt werden: „Obwohl ich mit dem Freitag oder der taz ein ähnliches Meinungsbild teile, arbeite ich mindestens genauso gerne für den Spiegel, die FAZ oder andere, konservativere Medien. Ich will mit meinen Themen Menschen erreichen, die sich sonst nicht damit beschäftigen würden“, sagt der Reporter.

Blattpolitik im Großverlag: Ein anonymer Welt-Journalist

Einfluss auf eine rechtskonservative Leserschaft auszuüben, sei auch das Ziel einiger JournalistInnen bei der WELT, berichtet uns ein Insider, der anonym bleiben möchte. „Bei anderen, etwa linksliberalen Zeitungen würde man dieses Publikum nicht mehr erreichen“, so der Journalist, der jedoch für sich die Wichtigkeit eines „Schutzraums“ innerhalb eines Teams betont, um den Kompromiss zwischen eigenen Zielen, Reichweite und Blattpolitik auszuhalten. „Mir ist es wichtig, für eine Leserschaft zu schreiben, die noch überzeugt werden muss, aber auch mit Leuten zu arbeiten, die das Gleiche wie ich wollen“, sagt er. Den auf die Blattpolitik zurückgehenden Entscheidungen der Chefredaktion steht er dabei kritisch gegenüber. Obwohl das Meinungsspektrum der im Blatt angestellten JournalistInnen breit sei, komme das nicht genug zum Ausdruck. Er schildert, wie er die Blattplanung erlebt. So würden Themen und Ressorts in der Zeitung von Verlag und Chefredaktion programmatisch mit bestimmten AutorInnen besetzt, um eine bestimmte Agenda zu bedienen. Die AfD-Berichterstattung in der WELT sei für ihn ein Beispiel für dieses strategische Vorgehen. Günther Lachmann, der heute unter anderem im Bereich „Strategische Kommunikation“ der AfD-Fraktion im Thüringer Landtag tätig ist, schrieb lange Zeit in der WELT über ebenjene AfD, bis ihm 2016 zu große Nähe zur Rechtsaußen-Partei nachgewiesen wurde und die Zeitung ihn daraufhin entließ. Wenngleich die Chefredaktion um Stefan Aust selbst in einer ersten Phase Lachmanns Verhalten als „zweifelhaft“ definiert hatte, kam sie am Ende doch zu einem positiveren Schluss für die Arbeit ihres ehemaligen Redakteurs und das Blatt: Einer internen Auswertung zufolge habe Lachmann keineswegs unkritisch über die Partei berichtet. „Daraufhin wurde nicht zufällig Matthias Kamann zum AfD Politikberichterstatter gemacht. An dieser Stelle wollten die Chefs den integersten und am wenigsten korrumpierbaren Mann in der Redaktion. Einen, der niemals einfach gut findet, was die AfD sagt“, so der Insider, der dahinter einen strategischen Zug des Blattes sieht, um sich so unter anderem auch vor Vorwürfen eines redaktionellen Rechtsrucks zu schützen. Nichtsdestotrotz gibt es auch Wege für weniger auf Linie schwimmende WELT-RedakteurInnen, die Blattpolitik aktiv mitzugestalten: „Wenn es die Gelegenheit gibt, schreiben Kollegen über besonders in rechten Kreisen kontrovers diskutierte Themen, wie beispielsweise die Seenotrettung oder Kriminalität durch Zugewanderte, damit andere sie nicht mit ihren zum Teil radikalen Meinungen besetzen“, so der Journalist.

Der Kompromiss der Nische: Rico Grimm von Krautreporter

Zwischen den Extremen freier Auftragsarbeit und Großverlag steht Rico Grimm, Chefredakteur des Digitalmagazins Krautreporter. Unter seiner Obhut betreiben feste und freie AutorInnen Reportage- und Aufklärungsjournalismus, den 10.000 Mitglieder über monatliche Beiträge bezahlen. Von Blattlinie oder Blattpolitik kann man im Fall Krautreporter nicht reden: „Es gibt keine Werbung. Die üblichen Verlagsstrukturen mit entsprechenden Konflikten fallen weg. Wir sind einzig von der Community abhängig, die uns trägt“, so Grimm. Ein Crowdfunding ermöglichte 2014 die Finanzierung der Plattform. Grimm schildert, wie die hochgebildete Lesergemeinschaft deshalb eine hohe Entscheidungsmacht habe, was die redaktionellen Inhalte angeht. Vor deren kritischen Äußerungen und oft unklarer Erwartungshaltung sei die Redaktion also weniger geschützt, doch für Grimm öffnet dieses Geschäftsmodell wesentliche Freiräume für den Online-Journalismus. Die finanzielle Frage stelle allerdings weiterhin eine Herausforderung dar. „Anders als die größeren Häuser können wir nicht große Summen investieren und dann sehen, ob das funktioniert. Die Frage ist aber auch, ob das für den Journalismus überhaupt sein muss“, sagt der Chefredakteur. „Verstehe die Zusammenhänge“, lautet der Spruch von Krautreporter, deren Mission darin besteht, in gründlichen Beiträgen die Welt und die Gesellschaft in ihrer Komplexität näher zu bringen. „Unser längster Artikel ist eine Einführung zum gegenwärtigen China, Lesezeit 45 Minuten. Wer sich die Mühe macht, hat danach ein erweitertes Weltbild“, so Grimm. Dabei betont er die Wichtigkeit von Meinungspluralität, gesteht aber zugleich Schwierigkeiten in der Umsetzung ein: „Wenn jemand argumentativ und journalistisch überzeugt, kann er bei uns auch jede Meinung vertreten. Doch es ist nicht einfach, Journalisten mit konservativen Ansichten zu finden, die bei uns arbeiten wollen.“

(Im Zweifel) sagen, was ist

Bleibt NachwuchsjournalistInnen heutzutage am Ende kein anderer Ausweg, als in Nischen zu flüchten? Nein, denn Blattlinie und Blattpolitik tragen zur Medienvielfalt bei. Sie dienen dazu, JournalistInnen und LeserInnen Orientierung zu geben. Wer sich wie wir von einem Kollektiv eine klare Haltung erhofft, muss damit leben. Wir wollen keinen Journalismus, der seine Aufgabe in der neutralen Informationsvermittlung sieht. Wir brauchen Haltung, Orientierung und Reflexion. Es kann vorkommen, und das zeigen auch unsere Gespräche, dass Spurvorgaben von Verlag und Chefredaktion für JournalistInnen zum Korsett werden. Deshalb müssen Blattlinie und Blattpolitik immer wieder hinterfragt werden. Doch wie der Fall Relotius zeigt, scheint das nur selten zu passieren. Beim Spiegel führte eine auf Erzählwucht ausgerichtete Textpraxis sogar dazu, dass einer Redaktion Fälschungen durchrutschten, einfach weil die Reportagen zu gut geschrieben waren. Verantwortung dafür trägt nicht die Existenz einer Blattlinie an sich, sondern die mangelhafte Hinterfragung derselben. So scheinen sich die beiden berühmten Leitsprüche des Spiegel „Sagen, was ist“ und „Im Zweifel links“ in eine neue, für den Journalismus düstere Formulierung zusammengefügt zu haben: „Im Zweifel sagen, was ist“. Das scheint nicht nur den Spiegel zu betreffen, sondern einen beträchtlichen Teil der Medien, die sich in ihrem ausgeprägten Selbstbewusstsein immer weiter bestätigen, statt sich selbst immer wieder infrage zu stellen.

Als angehende JournalistInnen sorgen wir uns über eine derart festgefahrene Medienlandschaft, die ihre Souveränität und Relevanz verliert. Wir wünschen uns kluge, reflektierende Verlage und erfahrene KollegInnen, die für ihre Haltung bekannt sind und den Zeitgeist mitprägen. Das journalistische Kerngeschäft muss dabei im Vordergrund stehen, nicht die Vermarktbarkeit der Form. Wir wünschen uns Reportagen über skandalöse Enthüllungen, vom, nicht über den Spiegel. Wir wünschen uns Redaktionen, in denen man wächst und die bereit sind, ihre JournalistInnen zu unterstützen. Wir wünschen uns einen aufgeklärten und selbstkritischen Journalismus als Gegenöffentlichkeit, an dem wir teilhaben können.

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